Geschichte eines Denkmahnmals
Adolf Burger lebt in Prag. Er ist Jude und Kommunist. Das brachte ihn 1942 nach Auschwitz. Wie durch ein Wunder schaffte er es, eineinhalb Jahre in der Todesfabrik zu überleben. Dann kam er, als gelernter Typograph, nach Sachsenhausen, wo die SS mit dem "Unternehmen Bernhard" die größte Geldfälscheraktion der Weltgeschichte begonnen hatte. Hier druckte Burger zusammen mit 143 Leidensgefährten u.a. gigantische Mengen englische Pfundnoten, die so "echt" waren, dass die Bank von England sie akzeptierte. Es war ein Todeskommando, denn natürlich sollte niemand von den beteiligten Häftlingen überleben. Eine Verkettung glücklicher Umstände rettete ihn ein weiteres Mal; 1945 wurde er im KZ Ebensee von den Amerikanern befreit. Seit einer Reihe von Jahren organisiere und betreue ich eine alljährliche Vortragsreise von Adolf Burger durch Berliner Schulen. Im Mai 1999 schaffte ich es endlich, seiner Einladung nach Prag zu folgen. In der gleichen Pension in Prag-Sporilov, in der Adolf mich und meine LABV (Lebensabschnittsbevollmächtigte) Nikki Bernstein untergebracht hatte, übernachtete auch Dr. Morsch, der Direktor der Brandenburgischen Gedenkstätten, der vom tschechischen Sachsenhausen-Komiteé eingeladen worden war. Bei einem gemeinsamen Essen kam das Gespräch auf ein nahezu in Vergessenheit geratenes geschichtliches Detail des tschechischen Widerstandes gegen die Nazis: im November 1939 demonstrierten im besetzten Prag tausende Studenten gegen die Deutschen. Das war sehr mutig. Doch 1140 Studenten wurden verhaftet und am 17. November 1939 nach Sachsenhausen deportiert. Einundzwanzig von ihnen kehrten nicht zurück. Nun erzählte uns Dr. Morsch, dass in der Gedenkstätte ein Ehrenhain eingerichtet werden soll, in dem an die bisher vernachlässigten Opfergruppen erinnert werden soll, wie z.B. an die Sinti und Roma, die Schwulen, die Zeugen Jehovas sowie an bestimmte Einzelpersonen. Dort wäre auch Platz für einen Gedenkstein, um an die einundzwanzig tschechischen Studenten zu erinnern. Aber natürlich habe niemand Geld, um so etwas zu realisieren. Heiliger Strohsack dachte ich, das darf nicht wahr sein. Ohne viel darüber nachzudenken, erklärte ich mich bereit, einen Stein zu besorgen und die damit verbundenen Transporte zu organisieren bzw. durchzuführen. Adolf sagte zu, die Gedenktafel für den Stein mit Hilfe von Sponsoren von einem Prager Steinmetz anfertigen zu lassen. Gesagt, getan. Innerhalb weniger Monate kam der Stein buchstäblich ins Rollen. Ich machte einen Entwurf für die Tafel und schickte ihn nach Prag. Einem befreundeten Landschaftsgärtner, Matthias Dalichow aus Potsdam, erzählte ich die Geschichte und dass ich einen großen Granitfindling bräuchte. Der wusste was: da gäbe es eine Kiesgrube in der Nähe von Schwarz, einem winzigen Nest 40 Kilometer nördlich von Neuruppin, deren Besitzer ein umgänglicher und freundlicher Mensch sei, mit dem man reden könne. Matthias machte einen Termin mit ihm, und schon waren wir unterwegs. Uwe Friel, der Chef der Kiesgrube, ermunterte mich, mir einen Stein herauszusuchen. Geld wollte er dafür nicht: "Ist ja für einen guten Zweck". Matthias wollte etwa 25 Tonnen kleinerer Granitfindlinge kaufen, die sollten nach Ludwigsfelde in ein Materiallager seiner Firma. Wir würden seinen und meinen Transport zusammenlegen. Matthias würde dafür den Löwenanteil der Kosten übernehmen. Das Ganze sollte dann im Mai über die Bühne gehen. Doch schon im Januar kam Fahrt in die Sache, denn der tschechische Präsident Vaclav Havel würde zum Staatsbesuch nach Berlin kommen. Bei dieser Gelegenheit wolle er den Gedenkstein für seine Landsleute persönlich einweihen. Adolf rief mich an und machte Druck: der Stein solle so schnell wie möglich nach Sachsenhausen, denn Havels Besuch könne sehr bald erfolgen. Adolf hatte recht konservative Vorstellungen vom Aussehen des Gedenksteins. Senkrecht sollte er stehen, mit darin eingelassener Tafel. So Dinger finden sich auf jedem Dorfanger, um an die Toten der Weltkriege zu gedenken. Ich hatte andere Absichten. Jetzt drängte die Zeit und Adolf gab mir freie Hand bei der Gestaltung. Nur die Tafel von 70 x 80 Zentimeter Größe mit einem kurzen Text und den Namen der Umgekommenen war vorgegeben. Mein Freund Manfred Rühl hatte die Idee, den Stein in der Mitte zu teilen und beide Hälften wie eine aufgeklappte Auster, mit der Tafel dazwischen, aufzustellen. das war ein famoser Einfall. Allerdings wollte ich die beiden halben Steine lieber mit den Schnittseiten schräg nach oben nebeneinander legen. Und auf der einen Hälfte sollte die Gedenktafel montiert werden. So dass es aussieht, als ob der Stein aufgesprungen sei, um nach sechzig Jahren die Namen der Vergessenen zu offenbaren. Ich rief in einem Natursteinwerk in Neuruppin an. Kein Problem mit dem Schnitt, erklärte man mir. Also machte ich mich auf die Suche nach einem 40-Tonnen Sattelzugkipper. Doch kein Lkw-Verleih hatte so ein Gerät - ohne Fahrer - im Angebot, außer Lex, einer Kran-und Transportfirma, die nicht nur teurer als alle anderen ist, sondern in der Branche insgesamt einen schlechten Ruf hat. Egal, was blieb mir anderes übrig? Einem Animus folgend standen Matthias und ich eineinhalb Stunden vor der verabredeten Zeit bei Lex auf der Matte. Die Zugmaschine war in der Werkstatt! - Man hätte aber einen 40-Tonnen Gliederzug mit Abroll-Containern als Ersatz anzubieten, den würde man jetzt für uns zusammenstellen, wenn wir einverstanden seien. Wir waren. Nach vollen drei Stunden, als wir gerade das Handtuch werfen wollten, war der Zug fertig. Die Zugmaschine war zwar erst acht Jahre alt, was für einen Lkw dieser Größenordnung überhaupt kein Alter bedeutet, aber schon in einem ungewöhnlich verwahrlosten Zustand. Der TÜV war gerade abgelaufen und in der Maschine fehlten rund zehn Liter Öl. Wir hatten keine andere Wahl. Stunden später als geplant waren wir endlich in der Kiesgrube bei Schwarz. Uwe Friel lud mir je 12 Tonnen kleinere Findlinge in die Container und auf die Zugmaschine als Letztes den großen obendrauf. Auf der Fahrt nach Neuruppin ging der Öldruck rapide in den Keller. Der Motor war wieder so gut wie trocken! Fünf Minuten vor vier Uhr erreichten wir das Natursteinwerk. Wir koppelten den Hänger ab, ich setzte rückwärts in die Halle und der Brocken wurde mit einem Portalkran abgeladen. Der Geschäftsführer erklärte, dass es sich um einen Eiszeitfindling aus Skandinavien handeln würde, der vor etwa 11.000 Jahren "eingewandert" sei, eine rote Granitsorte mit der Bezeichnung Kurorot. Der Schnitt wurde mit Kreide markiert und weiter ging es nach Ludwigsfelde. Es wurde dunkel und wir mussten feststellen, dass die automatisch - in Abhängigkeit vom Gewicht der Ladung - geregelte Scheinwerferverstellung im Eimer war. Der Abblendlichtkegel endete ca. vier Meter vor dem Fahrzeug. Also gings im Blindflug weiter. In Ludwigsfelde begann dann eine zeitraubende Rödelei: Anhänger ab, mit der Zugmaschine auf den Platz, abkippen. Zurück zum Hänger, den leeren Container daneben, den vollen Container mit dem Haken auf die Zugmaschine zerren, auf den Platz, abkippen. Dann den leeren Container auf den Hänger fummeln, den anderen Container wieder auf die Zugmaschine, den Hänger anbammeln, und schon war es halbzehn. Zurück nach Berlin. Kurz vor dem Ziel war der Öldruck innerhalb von Minuten wieder unter einem bar, der Motor am Sterben. Jetzt war Schluss. Diese Krücke würde den Heimathafen nicht mehr erreichen. Also parkte ich den Hänger und sogar ziemlich ordentlich. Mit letzten Motorzuckungen streichelte ich den Zugwagen durch eine Kurve auf einen korrekten Parkplatz am Straßenrand. Mit Wut im Bauch machten wir uns auf den Weg nach Hause. Später in der Nacht meldete ich der Notfallnummer von Lex den Standort des Zuges und wurde dafür übel angemacht. Der nächste Morgen brachte bereits früh einen Haufen unangenehmer Anrufe, Beschimpfungen, Drohungen. Jetzt war das Ende der Fahnenstange erreicht. Ich fuhr zu Lex und erklärte dem Geschäftsführer, dass es zwei Möglichkeiten gäbe: entweder wir würden uns auf Kulanz einigen, wobei der ursprüngliche Mietpreis nicht mehr zu halten sei, oder ich würde die Polizei einschalten, um den Zug wegen offensichtlicher Verkehrsunsicherheit beschlagnahmen zu lassen. Das wäre sicherlich auch für die Gewerbeaufsicht interessant. Jeder Fischhändler weiß: sind die Fische in meinem Angebot faul, verstoße ich damit gegen die Grundregeln in meinem Gewerbe. Der Geschäftsführer, ein unangenehmer Gartenzwerg mit Napoleon-Komplex, ein Mechaniker und ich fuhren zu dem unweit abgestellten Fahrzeug, um es zu besichtigen. Dass die Mühle auf rund 250 Kilometern sage und schreibe 15 Liter Öl gebraucht hatte, das ist mehr als eine komplette Füllung, war nur ein Kringel im Gesamtgeschehen. Ich machte eine umfangreiche Mängelliste auf: die Lenkung war völlig ausgeschlagen und hatte etwa zwei handbreit Spiel; ein Reifen an der Vorderachse hatte bei Übergabe zwei bar zu wenig Druck; ein Blinker am Hänger war im Eimer; für die erwähnte Scheinwerferverstellung war die zuständige Hydraulikleitung gebrochen; eine der Rampen unter dem Hänger war fast ganz durchgebrochen; Die Sicherheitsklauen der Verriegelung des einen Containers waren festgerostet, die Rollen nicht mehr gängig; die Tachobeleuchtung sowie die der Temperaturanzeige waren kaputt, diverse Kontrolleuchten funktionierten nicht. Dazu kam noch, dass sich auf der Rückfahrt die komplette große Gruppe des elektronisch gesteuerten Getriebes verabschiedete, sodass ich nur noch die untersten acht Gänge schalten konnte. Und das auch nur mit enormem Kraftaufwand. Nach einigem Hin und Her sah der Geschäftsführer ein, dass entweder Rabatt oder Riesenärger angesagt war. Schließlich übernahm er die Kosten für Schmier- und Brennstoff und reduzierte den Mietpreis um zehn Prozent. Na, das fing ja gut an. Von jetzt an konnte es eigentlich nur noch besser werden. Das nächste Problem war, den Stein im Ehrenhain der Gedenkstätte abzuladen. Der Untergrund bestand aus Naturboden. Ein Lkw mit Ladekran nutzte nichts, denn die Lkw-Verleih-Firmen vermieten an Selbstfahrer nur Ladekräne mit maximal zwei Tonnen. Und damit könnte ich die Ein-Tonnen-Hälften trotz Stützen höchsten einen Meter weit schwenken, ohne umzukippen. Ergo musste ein richtiger Kran her. Wie wäre es mit der Bundeswehr, die dann mal was sinnvolles zu tun hätte? Der technische Leiter der Gedenkstätte wusste Rat: da gäbe es einen Kontakt mit dem Standortkommandanten einer Panzereinheit in der Nähe, die hätten allerhand schweres Gerät. Die Bundeswehr sagte schnell und erstaunlich unbürokratisch zu. Man würde zum verabredeten Termin entsprechendes Gerät schicken. Na also. Für den letzten Transport vom Natursteinwerk in Neuruppin nach Sachsenhausen brauchte ich nur noch einen kleinen Lkw von ca. 8 - 9 Tonnen Gesamtgewicht. Und den konnte ich jetzt bei einer seriösen Firma mieten. Am Mittwoch, dem 9. Februar, war es dann soweit. Bei der Firma Vedder in Mariendorf stand der Lkw bereit; für die Hälfte des Geldes, das Lex verlangt hätte, und das Fahrzeug war in einem piekfeinen Pflegezustand. Ich ließ mir noch vier Europaletten geben und eineinhalb Stunden später waren wir, Nikki fuhr diesmal mit, im Natursteinwerk Neuruppin. Der durchgeschnittene Stein hatte keinerlei "Speckrand" um die Schnittstelle. Das ist eine Art von Verwitterung, die fast alle Eiszeitfindlinge aufweisen, wenn sie jahrelang aus der Erde heraus sind. Die Schnittflächen unseres Steines waren gleichmäßig durchgefärbt und erstaunlich glatt, obwohl das fachmännisch als "sägerauh" bezeichnet wird. Ich erklärte dem Geschäftsführer noch einmal, wofür der Stein gedacht war, dass alles auf Sponsoring-Basis laufen würde u.s.w. Er reduzierte die Rechnung für das Schneiden daraufhin um einen Posten von fast achtzig Mark. Prima. Ruckzuck waren die beiden Hälften verladen und wir auf dem Weg nach Sachsenhausen. Diesmal stand die ganze Tour unter einem besseren Stern. Allerdings war es lausig kalt. Vor der verabredeten Zeit erreichten wir die Gedenkstätte. Ich parkte den Laster auf der Lagerstraße vor dem Ehrenhain. Nach einer Weile begann der Boden leicht zu zittern. Es rumpelte, ein mächtiger Diesel wummerte, und plötzlich kam dieses Ding um die Ecke: ein ausgewachsener Bergepanzer, auf einem Leopard-1-Fahrgestell, 43 Tonnen Lebendgewicht. Begleitet von einem Polizeiwagen, einem kleinen Laster der Bundeswehr und einem Geländewagen. Wir machten uns mit den Soldaten bekannt: zwei Rekruten, ein Feldwebel, der den Panzer fuhr, und der Standortkommandant persönlich, Oberstleutnant Lindhorst, der die Truppe leitete und sich von einem Unteroffizier chauffieren ließ. Möglicherweise ein bisschen viel Aufwand für zweimal eine Tonne. Ich hatte eher mit einem Autokran gerechnet, einem "Apfelpflücker", wie wir früher in meiner Firma die kleineren Kräne bis 30 Tonnen genannt hatten. Der Bergepanzer hatte keinen Teleskop-Ausleger, sondern einen mächtigen Stahltrumm, der im steilsten Anstellwinkel immerhin 20 Tonnen auf den Haken nehmen konnte. Gedacht war er hauptsächlich dafür, innerhalb kürzester Zeit Panzermotoren heraus- und wieder hineinzuhieven. Oder mal einen Laster aus dem Graben zu zerren. Und dafür war die Truppe dann auch ausgebildet. Die Steinhälften schienen sie eher zu überfordern. Trotz meiner präzisen Anweisungen schafften sie es nicht, die Teile mit den Bändern zu drehen. Aber der Panzerfahrer wusste sich zu helfen: Wir pufferten die Steine mit den Paletten ab und er drehte die Hälften mit Hilfe des Räumschildes. Ein gelungenes Arrangement, fand ich. Dann wollte der Oberstleutnant noch ein Erinnerungsphoto machen. Er bestand darauf, dass ich mich dazu zwischen die Steine zu seinen Soldaten stellte. So kam es, dass ich im Tagebuch des Panzerartilleriebattailions 425 aus Lehnitz verewigt wurde. Falls mal jemand fragen sollte. Das Wetter war inzwischen sehr ungemütlich geworden. Der Offi- zier ließ sich von mir noch kurz erklären, wie es überhaupt zu der ganzen Aktion gekommen und für wen der Stein gedacht war. Ich fand es durchaus folgerichtig, dass der Rechtsnachfolger der ehemaligen großdeutschen Wehrmacht nun bei der Aufstellung der Gedenksteine helfen durfte. Der Oberstleutnant erwiderte darauf, dass er damit keinerlei Problem hätte, im Gegenteil, und schließlich sei man ja jetzt eine demokratische Armee. So, so. Die Hilfsbereitschaft dieser Truppe befreite mich - vorübergehend - sogar von meiner Uniform-Allergie. Wir beschlossen noch, in Verbindung zu bleiben; vielleicht könnte Adolf Burger den Vortrag über seine KZ-Zeit ja auch einmal in der Kaserne halten. Dann verabschiedeten wir uns im Nieselregen. Als der Panzer an uns vorbeidröhnte, winkte Nikki, die beiden Soldaten darauf drehten ihre Oberkörper in den Luken und salutierten vorschriftsmäßig, wie bei einer Parade. Als wir den Lkw in Berlin ablieferten, wartete ich nur auf die Frage, warum die eine Palette völlig zermalmt war. "Och, wissen Sie, da ist nur ein Panzer drüber gefahren." Leider fragte niemand. Für den zweiten Transport waren jetzt noch rund 700,- Mark offen. Nach einiger Überlegung wurde mir klar: ein typischer Fall für eine Parteienspende - aber zur Abwechslung mal anders herum. Der bloße Gedanke an politische Parteien verursacht bereits Würgegefühle. Für diese Geschichte kam eigentlich nur die Partei infrage, die neben den parteiüblichen Machenschaften auch heute noch liebevoll ihren Antifaschismus pflegt. Und richtig, im Handumdrehen bezahlte der Landesverband Berlin der PDS den letzten noch offenen Posten. Zum 55. Befreiungstag des Konzentrationslagers kam Adolf und zeigte mir stolz ein Photo von der Tafel, die am Vortag in Sachsenhausen angekommen war. Die Tafel hatte, entgegen allen Vereinbarungen, Hochformat. Das heißt, die eiförmigen Steinhälften müssten um 90 Grad gedreht werden, damit die Tafel aufrecht befestigt werden könnte. Das hatte gerade noch gefehlt. Übrigens waren von den ursprünglich 21 Namen auf der Tafel nur 18 übriggeblieben. Drei der deportierten Studenten waren Juden. Sie ließen ihr Leben nicht in Sachsenhausen, sondern wurden später in Auschwitz umgebracht. Der promovierte Historiker Morsch bestand deshalb darauf, dass ihre Namen nicht auf der Tafel erscheinen dürften. So erfuhren die Drei sechzig Jahre nach ihrem Tod noch einmal eine "Sonderbehandlung". Außerdem monierte Morsch das Wort "ermordet" im Text. Er setzte die Formulierung "haben das KZ nicht überlebt" durch. Alles wegen der historischen Genauigkeit, denn nicht alle wurden erschlagen oder erschossen oder erhängt; einige starben schließlich nur an Unterernährung oder Typhus. Ganz zu schweigen von denen, die ihre Befreiung nicht lange überlebten. Wir fuhren wieder nach Sachsenhausen, Manne mit seiner alten Magirus-Feuerwehr, denn die hatte Allradantrieb, Kempe und ich. In einer fünfeinhalbstündigen Wuchterei drehten wir mit Hilfe von dicken Hanfseilen die beiden Steinhälften um 90 Grad. Dann wurde die Gedenktafel befestigt. Es sah alles sehr würdig aus. Ein paar Tage später fuhr ich mit Nikki zum - vorläufig - letzten Mal in die Gedenkstätte, um dem Arrangement den sozusagen letzten Schliff zu geben. Die Steinhälfte mit der Tafel wurde auf Veranlassung der Gedenkstättenleitung bis zur offiziellen Einweihung mit einem Tuch verhüllt. Nun konnte Havel kommen. Am 10. Mai fand ich mich im Oranienburger Stadthotel ein, in das mich der Tschechische Verband der Kämpfer für die Freiheit eingeladen hatte. Gegen 18 Uhr kam der Bus aus Prag an. Um sieben erschienen Dr. Morsch und Zdenek Aulicky, der erste Sekretär der Tschechischen Botschaft. Kurze Ansprachen, dann wurde gegessen. Die Bot- schaft lud ein. Jetzt hatte ich Gelegenheit, mir die 33 alten Männer, die fast alle mit ihren Frauen erschienen waren, näher anzusehen. Gesichter wie wilde Berglandschaften. Auffällig die tief zwischen die Schultern gezogenen Köpfe. Alle Raucher unter ihnen sogen an den Kippen, bis sie sich fast die Fingerspitzen verbrannten. Der Jüngste war 81, der Älteste 92. Alle hatten es nach dem Krieg zu akademischen Würden gebracht. Ärzte, Rechtsanwälte, Ingenieure, Professoren. Aus den Studenten von einst war, allen Widrigkeiten zum Trotz, etwas geworden. Einzelne von ihnen wurden allerdings in den fünfziger und sechziger Jahren wieder eingelocht oder zu einfachen Arbeitern degradiert. Auch Adolf Burger erwischte es: er wurde zum "Kosmopoliten" erklärt und musste ins Stahlwerk. Aber es wird unter ihnen auch etliche Nutznießer des alten Regimes, vor dem Zusammenbruch des "Ostblocks", geben. Um 10 Uhr hatten alle die Hände auf der Bettdecke gefaltet. Ich wohnte mit Adolf in einem Zimmer, konnte aber unmöglich um diese Zeit zu Bett gehen. Adolf agitierte mich wie immer: ich solle früher ins Bett gehen, nicht so viel rauchen und Bier trinken etc. Also fand ich mich später in der Hotelbar wieder, um mich mit zwei ehemaligen Hitlerjungen aus dem Rheinland, beide mitte sechzig, über die "Bewältigung" der Nazizeit zu streiten. "Schlusstrich", "Hitler war der Verbrecher, die übrigen Deutschen nur Verführte", "von den Massenmorden haben wir nichts gewusst" u.s.w. u.s.f., das komplette Programm. Und die Gelegenheit zur Besichtigung des KZs, zu der ich sie freundlich eingeladen hatte, könne man, leider, leider, aus "zeitlichen Gründen" nicht wahrnehmen. Stirbt dieses Mistvolk eigentlich nie aus? All zu zeitig war die Nacht zuende. Nach dem Frühstück fuhren wir ins Lager, um die beiden neuen Ausstellungen im Museum anzusehen: über die Verfolgung der Schwulen (fand bei den Tschechen wenig Interesse) und über den 17. November 1939, der nach dem Krieg zum Internationalen Studententag gekürt wurde, was heute kaum jemand mehr weiß. Das waren sie, die damals gegen die deutsche Besatzung demonstriert hatten und dafür nach Sachsenhausen deportiert worden waren. Einige ihrer Kommilitonen wurden während der - friedlichen - Demonstrationen erschossen. Ein paar Tausend wurden verhaftet, die Universitäten geschlossen. Jetzt ging es ins Klinkerwerk, dem wohl berüchtigsten Außenlager des Kzs, in dem die meisten von ihnen geschunden worden waren. Die Mehrzahl der Alten war seit dem Krieg nicht wieder in Sachsenhausen gewesen. Am Hafenbecken des Kanals stiegen wir aus dem Bus. Jetzt erzählten sie. Ich umkreiste die Gruppe und machte Bilder. Mitten im mir unverständlichem Tschechisch benutzten sie immer wieder deutsche Worte: "Raus! Raus!"; "Schnell! Schnell!"; du Hund, dir werd` ich`s zeigen"; lauf, du Schwein, lauf!"; "Scharführer Hinze"; "Baracke"; "Block", "Prügelstrafe"; "Judenschule"; "SS". Zu meinem Erstaunen war die Hälfte der Geschichten lustiger Natur, es wurde viel gelacht. Verdrängung war das nicht, denn sie konnten sich an winzigste Details erinnern. Es war praktizierte Überlebensstrategie, die da sichtbar wurde. Einer zupfte mich am Ärmel und zeigte hinüber aufs andere Ufer des Kanals: "Dort drüben haben im Sommer die deutschen Familien Picknick gemacht, sind ins Wasser gesprungen und haben Ball gespielt. Sie konnten uns deutlich sehen. Und die Brüllerei der SS sehr gut hören". Der Weg zur Gedenkstätte war mit Polizeikräften gespickt. Am Tor wurde jeder Besucher aufmerksam beäugt. Die Alten und ich erhielten Sicherheitsausweise angehängt. Der Platz vor dem Museum, neben dem Lagertor, war voll unter der Kontrolle der zahlreichen Bodyguards und sonstigen Sicherheitstypen. Jeden Einzelnen von ihnen hatte man schon einmal im Film gesehen. Sogar die Sonnenbrillen waren die gleichen. Mit Manne fachsimpelte ich über die mutmaßliche Anzahl der immer wieder geklonten Grundtypen. Wir einigten uns auf etwa 8 - 12 Stück. Hinter einer Absperrung wurde die Medienmeute unter Verschluss gehalten. Zig Fernsehkameras, Mikrofonangeln, Bildreporter mit der Nikon im Anschlag. Stolpe und etliche andere "Würdenträger" waren schon da. Hinter einer Baumgruppe jenseits der Mauer, im ehemaligen SS-Lager, landete ein Hubschrauber, andere kreisten in der Luft. Zehn Minuten später kam die Kolonne die Lagerstraße entlang. 12 "weiße Mäuse" auf blankgewienerten Motorrädern mit Blaugeflacker, gepanzerte Limousinen, Sicherungsgruppe, Streifenwagen, ein schwarzer VIP-Bus mit dunkel getönten Scheiben, Funkverkehr. Havel und Gattin entstiegen, Stolpe stammelte und grapschte Hände. Die 33 ehemaligen Häftlinge strafften sich und nahmen Haltung an. Die Formation wurde abgeschritten, Händegeschüttel. Im Museum bekam die Meute eine neue Absperrung im Foyer zugewiesen. Nur wenige auserwählte Fotografen und Reporter durften mit hinein in die Ausstellung. Nach einer Viertelstunde kam alles wieder heraus. Das tschechische Ehepaar nahm 2 Minuten Platz für einen Fototermin. Havel trug sich ins Gästebuch ein. Blitzgelichter, Kameragesumme, eingefrorenes Grinsen. Und weiter ging es zur nächsten Etappe. Wieder durften, außer den ehemaligen Häftlingen, nur wenige Auserwählte mit hinein. Paradoxes Gedrängel am Tor mit der Überschrift: ARBEIT MACHT FREI - niemand wollte heraus, alle wollten hinein. Energische Bodyguards regelten den Verkehr. Ich gab ein paar tschechischen Zeitungen Interviews. Wir trollten uns in Richtung Ehrenhain, wo der eigentliche Akt passieren würde. Die Tafel auf der linken Steinhälfte war verhüllt. Rechts und links hingen in Ständern zwei Kränze; einer mit der Schärpe Brandenburgs, einer in den Farben der Tschechischen Republik. Bänke für die Alten, Zwinger für die Meute, nervöse Leibwächter mit Augen überall, Rednerpult. Havel sprach frei, seine Dolmetscherin rollte das "R" und mit den schwarzen Augen. Frieden, Völkerverständigung, Kampf gegen Rechts und die Russen, Haider böse. Tschechen und Deutsche. Applaus. Stolpe las ab, erbrach Worthülsen, kaum auszuhalten. Frieden, Völkerverständigung, Kampf gegen Rechts. Deutsche und Tschechen. Applaus. Dr. Cermin, der Vorsitzende des Tschechischen Verbandes der Kämpfer für die Freiheit predigte vom Blatt. Kampf gegen Rechts und die Russen. Applaus. Havel und Stolpe zerrten das Tuch von der Tafel, rückten ihre Kranzschleifen zurecht. Händegeschüttel, Blitzgewitter. Dr. Morsch überreicht Gastgeschenke an Havel und Gattin (Häftlingslöffel? Holzschuhe? Streifenanzüge?). Fototermin, Limousinen, Hubschrauber. Erleichterung bei mir und meinen Freunden. Haben wir gut hingekriegt, trotz Bodyguards, Präsidenten, beamteten Bonzen. Es verlief sich. Es wurde abgebaut. Manne sagte: "Ausnahmsweise müssen wir diesmal nicht aufräumen." Die 33 alten Männer holen jetzt den Block 38, das Neue Museum, nach. Mit einem der Alten nehme ich vor der Tür des Hotels noch ein Bier vor dem Abendessen. Er erzählt mir, wie er 1964 mit seiner 250er Jawa mit Beiwagen, Frau, Kind und Gepäck, von Südmähren nach Potsdam fuhr, in Urlaub. "Überall waren Russen. Die Stadt war voll von ihnen. So sah es bei uns erst 1968 aus." Frau Nickel, eine Mitarbeiterin der Gedenkstätte, erzählt mir von einer russischen Delegation, die vor ein Paar Wochen im Ehrenhain in Sachsenhausen eingelaufen war, um sich vor Ort zu informieren. Unsere Steinhälften hätten dabei besondere Aufmerksamkeit gefunden. Seit Ewigkeiten planten die Russen ein extra Denkmal für die in Sachsenhausen ermordeten russischen Kriegsgefangenen. Jetzt sei Fahrt in Sache gekommen, denn der neue russische Premier Putin solle im Juni zum Staatsbesuch nach Deutschland kommen, und in diesem Rahmen wolle er dann vielleicht auch.... Frau Nickel zog aus ihrer Tasche ein Fax aus Moskau hervor, das sie am selben Tag erhalten hatte: der Entwurf für das Mahnmal. Es bestand aus zwei Steinhälften, die auseinander klafften, dazwischen ringelte sich ein bronzenes Spruchband heraus. Tolle Idee. Um fünf war wecken. Grässlich. Beim Frühstück ging die ewige Zankerei zwischen Adolf Burger und der Leitung des Verbandes bzw. dessen Sprecherin weiter. Übrigens eine äußerst unangenehme Dame. Oberschicht, arrogant. Wir fuhren nach Berlin. Sightseeing. Ich bot mehrere Möglichkeiten an. Gewünscht wurde: Nazi-Adressen, anschließend Kaufhaus. Na gut. Wir starten am Alexanderplatz. Altes Museum, Neue Wache, Schauspielhaus, Staatsoper, Humboldt-Universität, Liebermann-Balkon: "Ich kann gar nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte" (am 30. Januar 1933 angesichts des Nazi-Fackelzuges). Brandenburger Tor, Neue Kapitalkanzlei (Potsdamer Platz). Voßstraße, Neue Reichskanzlei. "Wo genau war der Führerbunker?" "Zwischen diesen Neubauten dort. Der Hügel auf der Brache birgt nur den Bunker der SS-Fahrbereitschaft". Topographie des Terrors, KaDeWe. Die Zeit drängte. Ich lotste zur Autobahn. Verabschiedung. Viele waren gerührt. Ich auch. "Ahoi", wie der tschechische Neusprech für Guten Tag und Aufwiedersehen lautet. Was hoffentlich übrig bleibt: die Erinnerung. Norbert Knofo Kröcher
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(Alle Rechte liegen beim Autor Norbert Knofo Kröcher.)
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